
08 Jun Wie scharf ist ihre Axt?
Ist Leistung unbegrenzt abrufbar? Kann ein Motor ständig auf hoher Drehzahl arbeiten? Kann ein Rennpferd immer rennen? Bleiben Organisationen von selbst leistungsfähig? Und können Menschen, die Höchstleistungen erbringen, dies ununterbrochen tun? Wie soll das gehen?
Der argentinische Psychotherapeut und Autor Jorge Bucay schildert in einem seiner Bücher die Geschichte eines Holzfällers, der in den kanadischen Wäldern bei einer Holzgesellschaft anheuert:
„Der Holzfäller war guter Dinge, denn die Gesellschaft zahlte gut und seine Kollegen und der Vorarbeiter waren sympathisch und nett. Am ersten Tag meldete er sich wie vereinbart beim Vorarbeiter, der ihn mit einer Axt ausstattete und ihm einen bestimmten Bereich im Wald zuwies, wo er seinem Handwerk nachgehen sollte. Der Holzfäller machte sich begeistert an die Arbeit und fällte am ersten Tag 18 Bäume. Der Vorarbeiter gratulierte ihm zu der großartigen Leistung, klopfte ihm auf die Schulter und sagte „Weiter so!“.
Motiviert vom Lob seines neuen Chefs, beschloss er am nächsten Tag das Ergebnis des ersten Tages zu übertreffen. Er legte sich abends früher nieder, um ausgeruhter zu sein und stand am nächsten Morgen früher als alle anderen im Wald und fing an zu arbeiten. Trotz größten Körpereinsatzes und ohne eine Pause zu machen, lagen am Ende des Tages nur 15 Bäume am Boden.
Der Holzfäller dachte „Ich muss wohl zu müde gewesen sein“ und beschloss, an diesem Tag noch früher schlafen zu gehen.
Im Morgengrauen sprang er motiviert aus den Federn und machte sich gleich an die Umsetzung seines Vorhabens, die 18 Bäume des ersten Tages zu übertreffen. Doch diesmal schaffte er nicht einmal die Hälfte!
Am nächsten Tag waren es nur noch fünf und den letzten Tag verbrachte er vollständig damit überhaupt einen Baum zu fällen.
Sorgenvoll ob seiner schlechten Leistung trat er vor seinen Vorarbeiter, erzählte ihm, was vorgefallen war und schwor Stein und Bein, dass er geschuftet hatte bis zum sprichwörtlichen Umfallen.
Der Vorarbeiter betrachtete ihn und fragte: „Wann hast du denn deine Axt das letzte Mal geschärft?“
„Die Axt schärfen? Dazu hatte ich keine Zeit, ich war zu sehr beschäftigt, Bäume zu fällen.“
Zu sehr beschäftigt, Leistung zu erbringen
Manchmal geht es uns wie diesem Holzfäller: wir sind einfach zu sehr mit unserem Tagesgeschäft beschäftigt, als dass wir darauf achten könnten, unser „Werkzeug“ scharf zu halten.
Welches Werkzeug das ist, hängt sehr von ihrem Beruf ab. Ich denke hier einerseits an unsere psychische und physische Gesundheit. Andererseits denke ich an alles, was im Alltag „mitläuft“, z. B. zwischenmenschliche Beziehungen zu Kollegen, Update der eigenen Fachkenntnisse, Lösung von Problemen, die einen behindern, usw.
Auf Organisationsebene kommen hier Dinge zu trage wie das Zusammenspiel von Teammitgliedern, die Arbeitsabläufe einer Organisation, klare Kommunikation, Pflege von Kundenkontakten usw.
Ich denke, die Kernaussage der Geschichte ist, dass wir nur dann Höchstleistung erbringen können, wenn wir uns Zeit nehmen, darauf zu schauen, ob wir selbst und unsere ureigenen und notwendigen Werkzeuge denn auch noch in der Lage dazu sind. Lautet das Ergebnis dieser Untersuchung ja – alles bestens! Lautet es „Nein“, dann sollten sie schleunigst die nächste Feile suchen, um ihre Axt zu schärfen.
Nicht immer kennen wir uns selbst am besten
Doch trauen sie nicht nur ihrem eigenen Urteil – der Holzfäller wähnte sich ja auch am richtigen Weg. Der Blick von außen, den nahe Freunde, Familie oder Menschen, denen wir vertrauen, uns zur Verfügung stellen können, ist hier meist weniger durch den Arbeitsalltag eingeengt als der eigene. Nicht in unseren Arbeitsprozess eingebundene Menschen schaffen es so tatsächlich besser, ein realistisches Feedback zu geben, als jemand, der im Strudel des Tuns damit beschäftigt ist, zu navigieren.
Letztlich gibt es aus unserer Sicht gibt es viele Möglichkeiten, die Axt zu schärfen: Fachtrainings, Kompetenzentwicklungen, Lesen, Gespräche, Coachings, Supervision oder auch eine Auszeit über einen längeren Zeitraum können wahre Wunder wirken.
Auch so manches Team und so manche Organisation konnte Leistungs- und Produktionstiefs überwinden, indem sie im Sinne einer Entwicklungsklausur den Blick auf die ursprünglich so guten Werkzeuge richteten und diese gemeinsam wieder funktionstüchtig machten.
Und seien wir ehrlich: nach dem Schleifen merken wir den Unterschied zwischen einer scharfen und einer stumpfen Schneide sogar selbst.
Buchempfehlung:
Bucay, Jorge (1999): Komm ich erzähl die eine Geschichte. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.